Archiv der Kategorie: Kurzgeschichten

Der Pinguin auf der Fußmatte

IMG_3416 (2)An einem regnerischen Freitag im November betrat Marcus Mommsen das Haus in der Lindenstraße 22. Er stieg wie immer zu Fuß die drei Treppen bis zu seiner Dachgeschosswohnung empor. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb Mommsen kurz stehen, um in seiner Aktentasche nach dem Haustürschlüssel zu suchen. Er fand ihn in einer Seitentasche und stutzte. Etwas war anders, und das gefiel Mommsen gar nicht. Er sah zu seiner Wohnungstür und traute seinen Augen nicht. Auf der schönen neuen Fußmatte saß ein Pinguin. Er reichte Mommsen ungefähr bis zur Hüfte und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Guten Abend“, sagte der Pinguin. Mommsen glaubte, sich verhört zu haben. Hatte der Pinguin gesprochen? Vorsichtig schaute sich Mommsen um. Aber außer sich und dem Tier konnte er niemanden entdecken.

„Guten Abend“, antwortete Mommsen unsicher.

„Das wird aber auch Zeit, dass Sie nach Hause kommen. Ich warte schon seit einer Stunde auf Sie.“ Mommsen meinte, einen vorwurfsvollen Ton herauszuhören, und versuchte, ein Gefühl leichten Ärgers zu unterdrücken.

„Wollen Sie mich nicht hereinbitten?“ Der Pinguin trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

„Entschuldigung, kennen wir uns?“, Mommsen stand noch immer an der Treppe.

„Oh, wie unhöflich von mir“, gluckste der Pinguin. „Mein Name ist Bonaparte. Wir kennen uns nicht, aber Sie wurden mir empfohlen.“

„Wirklich?“ Mommsen klappte der Mund nach unten. Wer um Himmels willen würde ihn einem Pinguin empfehlen?

„Und was kann ich für Sie tun?“, wollte Mommsen wissen.

Ich spreche mit einem Pinguin, dachte er entsetzt. War er verrückt geworden? Sollte er vielleicht doch einmal zum Arzt gehen, wie seine Mutter ihm geraten hatte. Sie fand, das geordnete, geregelte Leben ihres Sohnes, ohne Freunde und Bekannte, als nicht gesund. Mommsen hingegen war zufrieden. Er brauchte auf niemanden Rücksicht nehmen und konnte tun, was immer er wollte. War das der Preis dafür? Imaginäre Tiere, die mit ihm sprachen?

„Ich würde gern bei Ihnen baden“, riss ihn der Pinguin aus seinen Gedanken.

„Baden?“ Mommsen glaubte, sich verhört zu haben.

„Ja, baden“, wiederholte der Pinguin.

„Bei mir?“

„Ja, bei Ihnen.“ Der Pinguin wurde langsam ungeduldig. „Herr Mommsen“, seufzte er. „Wir kommen mit unserem Gespräch nicht wirklich voran, wenn Sie alles wiederholen, was ich sage.“

„Ich verstehe das aber nicht. Wie kommen Sie auf die Idee, bei mir baden zu wollen?“, fragte Mommsen und klang mutiger, als er sich fühlte. Waren Pinguine eigentlich gefährliche Tiere?

„Nun, wie Sie sicher bemerkt haben, regnet es seit Tagen. Der Schmutz der Straße hat mein Gefieder verklebt. Es muss gereinigt werden und deshalb möchte ich baden. Vielleicht könnten wir das Gespräch in Ihrer Wohnung fortsetzen?“ Der Pinguin schaute hoffnungsvoll zur Wohnungstür.

Mommsen zögerte noch immer. Er wollte den Vogel nicht in seine saubere Wohnung lassen, zumal der ja zugegeben hatte, schmutzig zu sein.

„Gut“, sagte Mommsen langsam, um Zeit zu gewinnen. „Das verstehe ich. Aber wieso gerade bei mir?“

„Nun, wie ich schon sagte. Sie wurden mir empfohlen. Man sagte mir, dass Sie in diesem Haus der Einzige mit einer Badewanne sind. Wissen Sie, wir Pinguine müssen nämlich baden. Duschen reicht nicht.“

Mommsen hasste jedwede Störung seiner Tagesroutine, aber plötzlich fühlte er einen Anflug von Abenteuerlust. Warum sollte er dem Pinguin nicht helfen und ihn baden lassen? Was hatte er schon zu verlieren? Vermutlich passierte das alles sowieso nur in seinem Kopf. Schließlich gab es keine sprechenden Tiere. Außerdem hatte er sonst nie Besuch. Nur seine Mutter kam einmal im Jahr, wenn er Geburtstag hatte.

Kurzentschlossen öffnete Mommsen die Tür und ließ den Pinguin herein.

„Das Badezimmer ist den Flur entlang, hinten rechts.“

Mommsen zögerte. Sollte er dem Pinguin Shampoo oder ein Handtuch anbieten? Er betrachtete den stämmigen und trotzdem stromlinienförmigen Körper des Vogels. Das rückseitige Gefieder schimmerte im matten Flurlicht in einem warmen ins Schwarze spielende Blaugrau. Der Bauch des Pinguins war wohl mal weiß gewesen, aber durch den Schmutz wirkte er jetzt dunkelbeige.

„Benötigen Sie noch etwas?“, erkundigte sich Mommsen.

„Nein, vielen Dank“, erwiderte der Pinguin. „Mir genügt sauberes Wasser vollkommen.“ Er watschelte in Richtung des Badezimmers und drückte mit seinen schmalen, kräftigen Flügelchen die Türklinke hinunter. Dann zögerte er kurz und drehte sich schließlich zu Mommsen um.

„Sie sind sehr freundlich zu mir. Das ist nicht selbstverständlich. Das Gefühl, bei Ihnen willkommen zu sein, ist sehr schön. Wenn Sie mögen, können wir Freunde werden.“

Mommsen überlegte kurz. „Es wäre mir eine Ehre“, sagte er schließlich. „Möchten Sie … ähm … möchtest du nach dem Bad vielleicht eine Kleinigkeit essen? Ich mache mir jeden Abend etwas, vor dem Fernsehen …“

„Falls du einen Fisch hast, würde ich sehr gern mit dir essen.“ Der Pinguin lächelte mit seinem langen, schlanken Schnabel und verschwand im Bad.

Während Mommsen einen Fisch aus dem Tiefkühlfach auftaute, dachte er, dass er etwas Besonderes sei. Wer kann schon von sich behaupten, einen Pinguin zum Freund zu haben?

Ein zu lauter Nachbar

Als ich acht Jahre alt war, zog auf das Grundstück neben unserem Haus ein Esel. Für unseren kleinen Ort in der Nähe von Berlin war das eine Sensation. Nicht dass es bei uns keine Tiere gegeben hätte! Natürlich hielten die Bewohner unserer Ortschaft Hunde, Katzen, Kaninchen und was man sonst so in einer gut bürgerlichen Siedlung an Haustieren hatte. Einen Esel jedoch gab es bis dato nicht.
Nun muss man wissen, dass das Haus, zu dem der Esel fortan gehören sollte, in Besitz des ortsansässigen Pastors war, der dort mit seiner siebenköpfigen Familie wohnte. Meine eigene Familie war nicht religiös, aber manchmal spielte ich mit den Pastorenkindern.
Der Pastor war naturgemäß ein sehr religiöser Mann. Er war klein und hatte trotz seines noch recht jungen Alters bereits eine Glatze. Obwohl er es mit seiner Kinderschar nicht immer leicht hatte, war er stets gut gelaunt und lustig. Für jeden hatte er ein offenes Ohr, egal ob er seinen Gottesdienst besuchte oder nicht.
Warum dieser kleine Mann den Esel gekauft hatte, war nicht ganz klar. Vielleicht dachte er, ein Mann Gottes müsse einen Esel besitzen. Vielleicht wollte er seinen Kindern eine Freude machen. Vielleicht tat ihm das Tier auch einfach nur leid.
Auf jeden Fall war es von diesem Zeitpunkt an mit der Ruhe im Ort vorbei, denn der neue Mitbewohner erwies sich als äußerst kommunikationsfreudig. Sein I-Aah hallte von morgens um vier bis weit in die Nacht durch den Ort.
Das laute Geschrei des Tieres war auch das erste, das mich auf den neuen Nachbarn aufmerksam machte. Neugierig lief ich zum Gartenzaun, um zu sehen, woher der Lärm kam. Ich war jedoch nicht die Einzige, die von den Rufen des Esels angelockt worden war. Sämtliche Kinder der Nachbarschaft und auch einige Erwachsene standen bereits am Zaun und starrten auf das Tier. Die Kleinen neugierig, die Erwachsenen skeptisch, sogar sprachlos.
Der Esel hingegen stand wie selbstverständlich auf der Wiese vor dem Pastorenhaus. Er hatte einen Strick um den Hals, der im kniehohen Gras verschwand, und kaute genüsslich auf dem satten Grün herum. Gelegentlich unterbrach er seine Mahlzeit, um seinen Zuschauern ein ohrenbetäubendes I-Aah entgegenzuschmettern.
Ich betrachtete das Tier genauer. Es war dunkelbraun, recht mager und hatte eine zerzauste kurze Mähne. Seine langen, zarten Ohren drehten sich unaufhörlich in alle Richtungen, als hätten sie Angst, etwas zu verpassen. Am Bauch und am Maul schimmerte weißes, fast silbriges Fell, was dem Tier einen Hauch von Eleganz gab. Der in einer großen Quaste endende Schwanz verscheuchte unaufhörlich Fliegen, die im Sommer in unserer Region wahrlich eine große Plage waren. Der gleichmäßige Rhythmus dieser Bewegung erinnerte mich an das Metronom, das ich zum Klavierspielen nutzte.
Plötzlich hob der Esel den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Nie werde ich das Gefühl von Wärme vergessen, das mich in diesem Moment durchströmte. Die großen Augen schimmerten schwarz. Absolut nichts deutete auf die Dummheit und Sturheit hin, die den Tieren nachgesagt wird. Im Gegenteil. Die dunklen Eselaugen schauten intelligent und freundlich. Das Tier war kein bisschen von den vielen Leuten irritiert, die sich inzwischen vor dem Gartenzaun angesammelt hatten und gafften, als würde ihnen zum ersten Mal ein solches Langohr unter die Augen kommen. Gleichzeitig lag eine gewisse Traurigkeit im Blick dieses Esels, als wüsste er, was die Zukunft ihm bringen würde.
Zunächst wurde das Tier im Ort akzeptiert. Die Erwachsenen erkundigten sich beim Pastor höflich nach dem Befinden des Tieres und die Kinder liebten es, auf ihm zu reiten. Wenn sie mit ihm spielten, war es offensichtlich, dass der Esel die Aufmerksamkeit genoss. Aber manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, meinte ich erkennen zu können, dass seine Augen traurig und schwermütig wurden. Dann hatte er etwas Menschliches an sich, so als ob er genau wie wir fühlen und denken könnte.
Leider hatte der Esel aber auch, so wie bei Menschen nur allzu üblich, eine Schwäche, die dazu führte, dass die Akzeptanz unter den Einwohnern des Ortes rasant abnahm. Das arme Tier i-ahte zwanghaft den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis in die ersten Nachtstunden, tagein, tagaus. Alle Versuche des Pastors, den Esel zum Schweigen zu bewegen, schlugen fehl. Selbst durch die Wände des Stalls drang das Geschrei in jedes einzelne Haus des Ortes.
Zuerst meuterten die Erwachsenen. Sie begannen, hinter dem Rücken des Pastors zu tuscheln. Schließlich beschwerten sie sich ganz offen. Unterstützung bekamen sie von den Teenagern des Ortes, die glaubten, aufgrund ihrer Pubertät stünde ihnen das Recht auf vormittäglichen Schlaf zu, was jedoch durch den Lärm des Esels unmöglich wurde. Nach einiger Zeit verloren dann auch die Kinder das Interesse an dem Tier.
Schließlich musste sich der Pastor wohl oder übel dem Druck des Ortes beugen. Eines Tages war der Esel weg. Wohin der Pastor das Tier gebracht hatte, blieb sein Geheimnis. Die Erwachsenen interessierte es nicht und wir Kinder bekamen nur die Auskunft: „Es geht ihm gut.“
Gern hätte ich gewusst, was aus meinem schreienden Nachbarn geworden ist, der mir ein treuer Freund geworden war. Aber letztlich blieb mir nichts anderes übrig, als dem Pastor zu vertrauen, dass der Esel in guten Händen sei.
Und so kehrte wieder Ruhe ein in unseren kleinen Ort in der Nähe von Berlin.

Der Klang von Eis

Die wenigsten Menschen wissen, wie Eis klingt. Sie nehmen sich nicht die Zeit, ihm zuzuhören. Die Frau hingegen, die mit ruhigen Ruderschlägen das Boot direkt zur Mitte des Sees steuert, kennt die Geräusche, die gefrorenes Wasser hervorbringen kann, genau. Seit dem Tag im Januar vor fünf Jahren verfolgt sie der Klang des Eises, so vielfältig und verschieden wie keine von Menschenhand geschaffene Musik ihn je hervorbringen könnte. Sie schließt die Augen. Die Vergangenheit überfällt sie unbarmherzig, während das Ruder langsam durch das starre Wasser gleitet.
Zuerst hört sie ein Knirschen. Dann folgt ein Knarren und Knacken. Es wird immer lauter, fast wie Donnergrollen. Die Spannung ist körperlich spürbar. Sie ahnt mehr den Riss, als dass sie ihn sieht. Das Geräusch wird immer bedrohlicher. Dann reißt das Eis. Ein Klirren und Klingen mischt sich unter das Grollen, wie eine ferne Musik. Langsam dreht sie sich um. Entsetzt und fasziniert zugleich starrt sie auf die etwas hellere Stelle des Eises, auf der Sarah steht und ihr zuwinkt. Sie will schreien, ihr zurufen, dass sie weglaufen soll. Aber kein Laut kommt heraus, nur das bedrohliche Grollen des Eises dringt durch den Nachmittag. Sie spürt die sanfte Erschütterung der Eisdecke, bevor Sarah mit einem Poltern, Krachen und Platschen im kalten Wasser verschwindet. Für einen Moment sieht sie noch die Hand ihrer Tochter, die versucht, am Rand des Eislochs Halt zu finden. Dann ist auch die Hand verschwunden. Stille breitet sich aus. Endlich löst sich der Schrei in ihrer Kehle. Sie will zu dem dunklen Eisloch laufen, aber starke Arme halten sie zurück. Ein kurzer Kampf, dann gibt sie auf. Fassungslos beobachtet sie, wie Spaziergänger auf die Eisfläche laufen, um zu helfen. Einige telefonieren, andere schreien, manche stehen stumm vor Entsetzen. Zwei noch junge Männer legen sich auf die Eisfläche und robben vorsichtig zu der Stelle, an der das Wasser Sarah verschluckt hat. Sie liegen hintereinander, um das Gewicht besser auf dem Eis zu verteilen. Langsam, viel zu langsam nähern sie sich dem Eisloch. Endlich erreicht der erste Helfer das Wasser. Er greift hinein und versucht, das Kind unter den Eisschollen zu ertasten. Immer wieder rührt er in dem schwarzen Loch. Schließlich holt der junge Mann Luft und taucht den Oberkörper in das eiskalte Wasser. Sie beobachtet, wie sein Freund ihn an den Füßen hält, damit er nicht auch in der kalten Unendlichkeit verschwindet. Kurz kommt der junge Mann hoch, um Luft zu holen. Dann taucht er wieder ab. Schließlich gibt er auf. Die Sirene der Feuerwehr nähert sich.
Die Frau in dem kleinen Boot auf dem See öffnet langsam die Augen. Sie wirkt zerbrechlich und einsam, so allein auf der fast unbeweglichen Wasserfläche. Die Stille rundherum ist beruhigend und macht ihr gleichzeitig Angst. Das Wasser umspielt leise den hölzernen Rumpf des Bootes, während das Ruder es langsam vorangleiten lässt. Die Sonne steht bereits tief am Himmel.
Als wäre es gestern gewesen, hört sie die Rufe der Rettungstaucher der Freiwilligen Feuerwehr. Sie sieht sich am Ufer sitzen, eine Rettungsdecke um die Schultern, unfähig zu sprechen oder auch nur zu denken. Wie durch einen dichten Nebel hört sie, dass man Sarah geborgen habe. Tot.
Fünf Jahre sind seit dem Tag vergangen, als der See Sarah holte und ihr eigenes Leben genauso zerstörte wie das ihrer Tochter. Jeden Tag fährt sie seitdem mit dem Boot auf die Mitte des Sees hinaus. Im Winter geht sie zu Fuß. Manchmal stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn das Eis auch unter ihren Füßen nachgeben würde.
Die täglichen Ausflüge auf den See sind das Einzige, das ihr seit dem Unglückstag den Verlust ihrer Tochter erträglich macht. Immer am Nachmittag, immer zu der Zeit, als Sarah im See verschwand.
Den Rucksack mit einem Handy und Sarahs Teddy hinter sich im Boot sitzt sie reglos eine Stunde auf dem Wasser. Lautlos spricht sie mit ihrer Tochter, erzählt ihr von den Ereignissen des Tages, sagt ihr, wie sehr sie ihr fehlt. Die Frau starrt in die kaum sichtbaren Wellen des Sees, als könnte sie Sarah dadurch überreden zurückzukommen. Wenn das Handy im Rucksack klingelt, wird sie langsam das Boot wenden und in ihr Leben zurückkehren, um am nächsten Tag erneut dem Klang des Eises zu lauschen.