Als ich acht Jahre alt war, zog auf das Grundstück neben unserem Haus ein Esel. Für unseren kleinen Ort in der Nähe von Berlin war das eine Sensation. Nicht dass es bei uns keine Tiere gegeben hätte! Natürlich hielten die Bewohner unserer Ortschaft Hunde, Katzen, Kaninchen und was man sonst so in einer gut bürgerlichen Siedlung an Haustieren hatte. Einen Esel jedoch gab es bis dato nicht.
Nun muss man wissen, dass das Haus, zu dem der Esel fortan gehören sollte, in Besitz des ortsansässigen Pastors war, der dort mit seiner siebenköpfigen Familie wohnte. Meine eigene Familie war nicht religiös, aber manchmal spielte ich mit den Pastorenkindern.
Der Pastor war naturgemäß ein sehr religiöser Mann. Er war klein und hatte trotz seines noch recht jungen Alters bereits eine Glatze. Obwohl er es mit seiner Kinderschar nicht immer leicht hatte, war er stets gut gelaunt und lustig. Für jeden hatte er ein offenes Ohr, egal ob er seinen Gottesdienst besuchte oder nicht.
Warum dieser kleine Mann den Esel gekauft hatte, war nicht ganz klar. Vielleicht dachte er, ein Mann Gottes müsse einen Esel besitzen. Vielleicht wollte er seinen Kindern eine Freude machen. Vielleicht tat ihm das Tier auch einfach nur leid.
Auf jeden Fall war es von diesem Zeitpunkt an mit der Ruhe im Ort vorbei, denn der neue Mitbewohner erwies sich als äußerst kommunikationsfreudig. Sein I-Aah hallte von morgens um vier bis weit in die Nacht durch den Ort.
Das laute Geschrei des Tieres war auch das erste, das mich auf den neuen Nachbarn aufmerksam machte. Neugierig lief ich zum Gartenzaun, um zu sehen, woher der Lärm kam. Ich war jedoch nicht die Einzige, die von den Rufen des Esels angelockt worden war. Sämtliche Kinder der Nachbarschaft und auch einige Erwachsene standen bereits am Zaun und starrten auf das Tier. Die Kleinen neugierig, die Erwachsenen skeptisch, sogar sprachlos.
Der Esel hingegen stand wie selbstverständlich auf der Wiese vor dem Pastorenhaus. Er hatte einen Strick um den Hals, der im kniehohen Gras verschwand, und kaute genüsslich auf dem satten Grün herum. Gelegentlich unterbrach er seine Mahlzeit, um seinen Zuschauern ein ohrenbetäubendes I-Aah entgegenzuschmettern.
Ich betrachtete das Tier genauer. Es war dunkelbraun, recht mager und hatte eine zerzauste kurze Mähne. Seine langen, zarten Ohren drehten sich unaufhörlich in alle Richtungen, als hätten sie Angst, etwas zu verpassen. Am Bauch und am Maul schimmerte weißes, fast silbriges Fell, was dem Tier einen Hauch von Eleganz gab. Der in einer großen Quaste endende Schwanz verscheuchte unaufhörlich Fliegen, die im Sommer in unserer Region wahrlich eine große Plage waren. Der gleichmäßige Rhythmus dieser Bewegung erinnerte mich an das Metronom, das ich zum Klavierspielen nutzte.
Plötzlich hob der Esel den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Nie werde ich das Gefühl von Wärme vergessen, das mich in diesem Moment durchströmte. Die großen Augen schimmerten schwarz. Absolut nichts deutete auf die Dummheit und Sturheit hin, die den Tieren nachgesagt wird. Im Gegenteil. Die dunklen Eselaugen schauten intelligent und freundlich. Das Tier war kein bisschen von den vielen Leuten irritiert, die sich inzwischen vor dem Gartenzaun angesammelt hatten und gafften, als würde ihnen zum ersten Mal ein solches Langohr unter die Augen kommen. Gleichzeitig lag eine gewisse Traurigkeit im Blick dieses Esels, als wüsste er, was die Zukunft ihm bringen würde.
Zunächst wurde das Tier im Ort akzeptiert. Die Erwachsenen erkundigten sich beim Pastor höflich nach dem Befinden des Tieres und die Kinder liebten es, auf ihm zu reiten. Wenn sie mit ihm spielten, war es offensichtlich, dass der Esel die Aufmerksamkeit genoss. Aber manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, meinte ich erkennen zu können, dass seine Augen traurig und schwermütig wurden. Dann hatte er etwas Menschliches an sich, so als ob er genau wie wir fühlen und denken könnte.
Leider hatte der Esel aber auch, so wie bei Menschen nur allzu üblich, eine Schwäche, die dazu führte, dass die Akzeptanz unter den Einwohnern des Ortes rasant abnahm. Das arme Tier i-ahte zwanghaft den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis in die ersten Nachtstunden, tagein, tagaus. Alle Versuche des Pastors, den Esel zum Schweigen zu bewegen, schlugen fehl. Selbst durch die Wände des Stalls drang das Geschrei in jedes einzelne Haus des Ortes.
Zuerst meuterten die Erwachsenen. Sie begannen, hinter dem Rücken des Pastors zu tuscheln. Schließlich beschwerten sie sich ganz offen. Unterstützung bekamen sie von den Teenagern des Ortes, die glaubten, aufgrund ihrer Pubertät stünde ihnen das Recht auf vormittäglichen Schlaf zu, was jedoch durch den Lärm des Esels unmöglich wurde. Nach einiger Zeit verloren dann auch die Kinder das Interesse an dem Tier.
Schließlich musste sich der Pastor wohl oder übel dem Druck des Ortes beugen. Eines Tages war der Esel weg. Wohin der Pastor das Tier gebracht hatte, blieb sein Geheimnis. Die Erwachsenen interessierte es nicht und wir Kinder bekamen nur die Auskunft: „Es geht ihm gut.“
Gern hätte ich gewusst, was aus meinem schreienden Nachbarn geworden ist, der mir ein treuer Freund geworden war. Aber letztlich blieb mir nichts anderes übrig, als dem Pastor zu vertrauen, dass der Esel in guten Händen sei.
Und so kehrte wieder Ruhe ein in unseren kleinen Ort in der Nähe von Berlin.
Ein zu lauter Nachbar
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