Archiv für den Monat: Dezember 2015

Der Klang von Eis

Die wenigsten Menschen wissen, wie Eis klingt. Sie nehmen sich nicht die Zeit, ihm zuzuhören. Die Frau hingegen, die mit ruhigen Ruderschlägen das Boot direkt zur Mitte des Sees steuert, kennt die Geräusche, die gefrorenes Wasser hervorbringen kann, genau. Seit dem Tag im Januar vor fünf Jahren verfolgt sie der Klang des Eises, so vielfältig und verschieden wie keine von Menschenhand geschaffene Musik ihn je hervorbringen könnte. Sie schließt die Augen. Die Vergangenheit überfällt sie unbarmherzig, während das Ruder langsam durch das starre Wasser gleitet.
Zuerst hört sie ein Knirschen. Dann folgt ein Knarren und Knacken. Es wird immer lauter, fast wie Donnergrollen. Die Spannung ist körperlich spürbar. Sie ahnt mehr den Riss, als dass sie ihn sieht. Das Geräusch wird immer bedrohlicher. Dann reißt das Eis. Ein Klirren und Klingen mischt sich unter das Grollen, wie eine ferne Musik. Langsam dreht sie sich um. Entsetzt und fasziniert zugleich starrt sie auf die etwas hellere Stelle des Eises, auf der Sarah steht und ihr zuwinkt. Sie will schreien, ihr zurufen, dass sie weglaufen soll. Aber kein Laut kommt heraus, nur das bedrohliche Grollen des Eises dringt durch den Nachmittag. Sie spürt die sanfte Erschütterung der Eisdecke, bevor Sarah mit einem Poltern, Krachen und Platschen im kalten Wasser verschwindet. Für einen Moment sieht sie noch die Hand ihrer Tochter, die versucht, am Rand des Eislochs Halt zu finden. Dann ist auch die Hand verschwunden. Stille breitet sich aus. Endlich löst sich der Schrei in ihrer Kehle. Sie will zu dem dunklen Eisloch laufen, aber starke Arme halten sie zurück. Ein kurzer Kampf, dann gibt sie auf. Fassungslos beobachtet sie, wie Spaziergänger auf die Eisfläche laufen, um zu helfen. Einige telefonieren, andere schreien, manche stehen stumm vor Entsetzen. Zwei noch junge Männer legen sich auf die Eisfläche und robben vorsichtig zu der Stelle, an der das Wasser Sarah verschluckt hat. Sie liegen hintereinander, um das Gewicht besser auf dem Eis zu verteilen. Langsam, viel zu langsam nähern sie sich dem Eisloch. Endlich erreicht der erste Helfer das Wasser. Er greift hinein und versucht, das Kind unter den Eisschollen zu ertasten. Immer wieder rührt er in dem schwarzen Loch. Schließlich holt der junge Mann Luft und taucht den Oberkörper in das eiskalte Wasser. Sie beobachtet, wie sein Freund ihn an den Füßen hält, damit er nicht auch in der kalten Unendlichkeit verschwindet. Kurz kommt der junge Mann hoch, um Luft zu holen. Dann taucht er wieder ab. Schließlich gibt er auf. Die Sirene der Feuerwehr nähert sich.
Die Frau in dem kleinen Boot auf dem See öffnet langsam die Augen. Sie wirkt zerbrechlich und einsam, so allein auf der fast unbeweglichen Wasserfläche. Die Stille rundherum ist beruhigend und macht ihr gleichzeitig Angst. Das Wasser umspielt leise den hölzernen Rumpf des Bootes, während das Ruder es langsam vorangleiten lässt. Die Sonne steht bereits tief am Himmel.
Als wäre es gestern gewesen, hört sie die Rufe der Rettungstaucher der Freiwilligen Feuerwehr. Sie sieht sich am Ufer sitzen, eine Rettungsdecke um die Schultern, unfähig zu sprechen oder auch nur zu denken. Wie durch einen dichten Nebel hört sie, dass man Sarah geborgen habe. Tot.
Fünf Jahre sind seit dem Tag vergangen, als der See Sarah holte und ihr eigenes Leben genauso zerstörte wie das ihrer Tochter. Jeden Tag fährt sie seitdem mit dem Boot auf die Mitte des Sees hinaus. Im Winter geht sie zu Fuß. Manchmal stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn das Eis auch unter ihren Füßen nachgeben würde.
Die täglichen Ausflüge auf den See sind das Einzige, das ihr seit dem Unglückstag den Verlust ihrer Tochter erträglich macht. Immer am Nachmittag, immer zu der Zeit, als Sarah im See verschwand.
Den Rucksack mit einem Handy und Sarahs Teddy hinter sich im Boot sitzt sie reglos eine Stunde auf dem Wasser. Lautlos spricht sie mit ihrer Tochter, erzählt ihr von den Ereignissen des Tages, sagt ihr, wie sehr sie ihr fehlt. Die Frau starrt in die kaum sichtbaren Wellen des Sees, als könnte sie Sarah dadurch überreden zurückzukommen. Wenn das Handy im Rucksack klingelt, wird sie langsam das Boot wenden und in ihr Leben zurückkehren, um am nächsten Tag erneut dem Klang des Eises zu lauschen.

Ingrid Noll „Röslein rot“

IMG_3408 (2)Ein stiller, nicht ganz typischer Noll-Roman
Rezension bezieht sich auf: Röslein rot (detebe) (Taschenbuch)

Im Zentrum des Romans steht eine Frau mittleren Alters. Sie führt eine langweilige Ehe mit einem Architekten, in erster Linie als Hausfrau und Mutter. Nebenbei erledigt sie die Büroarbeit für ihren Mann Reinhard, der sich gerade selbstständig macht. Die knappe Freizeit verbringt Annerose, genannt Röschen, mit Glasmalerei – ihre Art, aus dem Alltag zu fliehen.
In dieses langweilige Leben schleicht sich ganz allmählich etwas Bedrohliches. Verschiedene Frauen treten in Reinhards, und damit auch in Anneroses Leben. Sie verdächtigt ihren Mann der Untreue und fühlt sich zunehmend an den Rand gedrängt. Ihre Unsicherheit, ob Reinhard sie denn nun betrüge oder ob sie sich alles nur einbilde, sorgt dafür, dass Annerose beginnt, ihren Mann genau zu beobachten, in seinen Sachen zu schnüffeln und ihm nachzustellen. Obwohl sie Anzeichen sieht und Vorahnungen hat, bleibt zunächst für den Leser unklar, ob die Protagonistin nicht einfach nur überzogen und viel zu misstrauisch reagiert. Bis die für Ingrid Noll obligatorische Leiche auftaucht …
Obwohl der Leser das ganze Buch hindurch ahnt, was als nächstes passieren wird, ist es trotzdem spannend und interessant zu sehen, wie Anneroses Ehe langsam zerbricht, Familienbande neu geknüpft werden und Freunde nicht das sind, was sie scheinen. Die eingeschobenen Bildbeschreibungen mit Bezug zu Anneroses Hobby und zu den Ereignissen im Roman unterbrechen regelmäßig die Handlung und geben dem Leser einen lehrreichen Einblick in die Malerei barocker Stillleben.
Das Buch ist sicherlich nichts für Krimifans, die auf den ersten Seiten einen handfesten Mord erwarten. Die Spannung baut sich langsam auf und belohnt den geduldigen Leser. Die Wende in der Handlung und die Auflösung am Ende des Romans sind dann aber leider etwas oberflächlich und unoriginell geraten. Insgesamt ein leiser Krimi, der vom Stil her kein typischer Noll-Roman ist, aber dennoch nicht weniger lesenswert.

Ingrid Noll „Röslein rot“
Roman, detebe 23151, 288 Seiten
Diogenes Verlag; 10,90 Euro
ISBN 978-3-257-23151-9